Ein Schacht, ein Seil, an der eine Kabine hängt, und ein Motor, der das Ganze rauf und runter wuchtet. So funktioniert jeder Fahrstuhl seit 160 Jahren. Die Unterschiede sind graduell – manche Gefährte rumpeln zum Gotterbarmen, andere sausen pfeilschnell hunderte von Metern in die Höhe – doch die Basistechnik ist immer gleich auf der ganzen Welt.
Nur in Rottweil ist das anders. Dort steht der 246 Meter hohe Versuchsturm von ThyssenKrupp und hier arbeitet der erste Aufzug ohne Seil. Der "Multi" verhält sich zu einem konventionellen Aufzug in etwa so wie eine superschnelle Magnetschwebebahn zu einer schnaufenden Dampflokomotive.
Genau wie der Transrapid nutzt der Super-Aufzug Magnetfelder, um sich zu bewegen. "Unsere Entwicklung hat mit der Historie von Thyssen Krupp zu tun" sagt Michael Cesarz, Chef des "Multi"-Projekts von ThyssenKrupp, im Gespräch mit dem stern. "Der Transrapid war ein Projekt von Siemens und ThyssenKrupp und die Ingenieure sind mit uns eng verbunden geblieben. Wir hatten also ganz viele Fundamentaldaten – anhand deren konnte man dann leichter in die Vertikale umswitchen."
Nach 160 Jahren Seil-Aufzügen soll der "Multi" alles verändern. In der Ära der Seil-Aufzüge hat es in der Aufzugtechnologie keine revolutionären Umbrüche gegeben. Es gab Weiterentwicklungen bestehender Techniken, bis an die Grenze des technisch Möglichen, nun zeigt der "Multi" einen radikalen, komplett neuen Ansatz. Basierend auf der Transrapidtechnologie nutzt der "Multi" ein Magnetfeld. Die Kabine saust auf einem vier Millimeter dünnen Magnetkissen rauf und runter.
Doch es ist nicht so einfach, die Zugtechnologie von der Horizontalen in die Vertikale zu bekommen. "Anders als beim Transrapid schwebt unsere Kabine nicht vollkommen auf dem Magnetfeld," sagt Cesarz. Dem Zug half nämlich die Schwerkraft, um auf der Schiene zu bleiben. "Bei einer Bewegung in die Höhe wäre die Kabine vom Magnetfeld allein nicht zu kontrollieren. Die Kabine wird zusätzlich von Rollen in Position gehalten."
Durch diese Magnettechnologie arbeitet der Aufzug verschleißfrei und ohne Seile. Der Verzicht auf Seile hat enorme Bedeutung für den Bau von Wolkenkratzern. Höhen von 300 Metern und mehr haben die konventionelle Seil-Technologie an ihre Grenze gebracht – genau genommen sogar darüber hinaus. Immer aufwendigere Tricks machen es möglich, die Aufzughöhe auf diese Dimension zu strecken. Das liegt am Wesentlichen am Gewicht der Seile. Je höher der Turm, umso länger und stärker müssen die Seile sein. Und umso schwerer werden sie auch.
Der eigentliche Clou des "Multis" ist jedoch sein zweiter Vorteil: Nun, wo die Kabine nicht mehr an einem tonnenschweren Seil hängt, kann sie mehr als nur stoisch rauf und runter fahren – die Kabine kann sich erstmals seitlich bewegen. Im Prinzip beliebig weit, in der Praxis wird sie von Schacht zu Schacht wechseln können. Erstmals können sich nun in einem Schacht mehrere Kabinen unabhängig voneinander bewegen und sie können sich sogar überholen. Für die gleiche Beförderungskapazität benötigt man weniger Schächte und durch das Einsparen an Fläche rechnet sich die aufwendige Technik des "Multis". "Für unser System brauchen sie eine bestimmte Anzahl an Stockwerken" erläutert Michael Cesarz. "Der "Multi" spart Schächte und damit kostbare Fläche im Gebäude ein. Fläche, die dann für Wohn- oder Büroraum genutzt werden kann."
Alle 20 bis 25 Meter kann eine Kabine fahren und das mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in einem Schacht. "Damit die Kabinen sich überholen und überhaupt mehrere Kabinen sinnvoll in einem Schacht fahren können, müssen wir die Schächte wechseln. Durch unsere Exchanger, eine Weiche, über die die Kabine die Richtung ändert, ist der "Multi" ein sehr komplexes System." Ein normaler Aufzugsschacht ist eine leere Röhre – mit ein paar Metallstreben und den baumelnden Seilen, der Schacht des "Multi" ist dagegen eine Hightech-Installation – über Hunderte von Metern.
Die Flächeneinsparung im Gebäude muss das Geld freisetzen, das in den teuren Aufzug investiert wird. "Wir benötigen eine gewisse Höhe, um in den Bereich der Rentabilität zu kommen. Ab 150, 200 Meter wird der Einsatz des "Multi" sehr rentabel. In einem Haus mit drei, vier Etagen eher nicht."
Im Betrieb geht der "Multi" sparsamer als konventionelle Systeme mit der Ressource Energie um. Je nach Bedarf kann man die Zahl der Kabinen anpassen. Die Peaks der Nutzung haben Gebäude am Morgen und in der Mittagszeit – in der Zwischenzeit benötigt man nicht so viele Kabinen. Der "Multi" nimmt die überzähligen Kabinen aus den Schächten und parkt sie in Garagen ab. So werden die bewegten Massen geringer. Und die bestimmen den Energiebedarf.
"Es gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zu konventionellen Aufzügen: Wir bewegen uns im kompletten Leichtbau. Alles, was mit der Kabine zu tun hat, ist Technik aus der Luftfahrt", sagt Michael Cesarz. "Eine konventionelle Kabine kann im Gegensatz zum "Multi" gar nicht schwer genug sein, sie brauchen das hohe Gewicht um Reibung auf den Umlenkrollen zu erzeugen." Durch die Leichtbau-Kabinen und das Fehlen der Seile reduziert der "Multi" die dynamischen Massen enorm. Bei einem ausgewachsenen Hochhaus von 300 Metern wiegen die Seile 20 bis 30 Tonnen – diese Masse muss bei jeder Bewegung beschleunigt und gebremst werden – das kostet wertvolle Energie.
Konventionellen Anlagen leiden auch darunter, dass Gebäude und Aufzugschächte schwanken. Hohe Gebäude müssen schwanken, sonst würden sie brechen. Der Burj Khalifa besitzt elf aufwendige Dämpfer, dennoch schwenkt er gern mal zwei Meter. "Für den Aufzug bedeutet die Schwankung, dass der Maschinenraum im Zweifel gar nicht mehr direkt über dem Schacht sitzt – dann kann das Seil plötzlich zur Säge werden," so Michael Cesarz. Ein Problem, das der "Multi" nicht kennt. Ein anderes, dem Laien unbekanntes Problem, ist die sogenannte Eigenfrequenz der Seile. Mit großem Aufwand müssen Seilfrequenz und Gebäudeschwankung "entkoppelt" werden. Die Eigenfrequenz der Häuser ähnelt denen der Stahlseile. Bei starken Winden wirken beide Effekte zusammen, die Seile beginnen zu vibrieren. Der "Multi" dagegen reagiert nicht sensibel auf die Schwankungen des umgebenden Gebäudes.
Doch wie steht es um die Sicherheit? Ein Laie könnte denken, eine normale Kabine hängt an einem starken Seil, der "Multi" wird von einem unsichtbaren Magnetfeld in der Luft gehalten. "Es ist ein kompletter Irrglaube, dass die Sicherheit der konventionellen Anlagen auf dem Seil basiert", ärgert sich Cesarz über diese Idee, die sich hartnäckig hält. Tatsächlich besitzt jeder Aufzug eine mechanische Bremse. Sie funktioniert rein mechanisch mit Federn und klemmt die Kabine fest, sobald sie sich zu schnell bewegt.
Action- und Horrorfilme zeigen gern, wie eine Kabine mit schreienden Insassen in die Tiefe stürzt, doch tatsächlich ist das gar nicht möglich. Auch beim "Multi" nicht, denn auch er besitzt die gesetzlich vorgeschriebene Notbremse. Sollte es zu einem Stromausfall kommen, springen Generatoren in den Wolkenkratzern an, um die wichtigsten Funktionen wie die Aufzüge aufrecht zu erhalten. "Doch wir verlassen uns nicht allein auf die Generatoren", erläutert Cesarz die Sicherheitstechnik. "Wir montieren Hochleistungsbatterien in den Schächten. Eine volle Kabine, die herunterfährt, speist in etwa die benötigte Menge Energie ein, um eine leere Kabine hochfahren zu lassen. Diese Energie speichern wir. Wir haben immer genug Energie im System, um im Fall eines totalen Blackouts jede Kabine auf eine sichere Etage zu fahren."
Außerhalb des Turms in Rottweil wird der erste "Multi" im East Side Tower in Berlin in Betrieb geben. Die Eröffnung ist für 2023 geplant. "Die Zertifizierung für den "Multi" werden wir 2022 fertig haben. Dafür nutzen wir unseren eigenen Testturm in Baden-Württemberg, weil wir dort alles einbauen können, was wir brauchen", erklärt Michael Cesarz,. Bei einem externen Partner könne ThyssenKrupp den Bau natürlich nicht in dem Maße kontrollieren, wie im eigenen Turm.
"Danach können wir weltweit die Märkte bedienen. Wir wissen, dass wir bis 2050 zwei Milliarden mehr Menschen auf dieser Welt haben, wir wissen, dass die Städte sich verdichten – und dass die Gebäude immer höher werden." Dank des "Multi" rücken nun auch Gebäudehöhen von 800 bis 1000 Metern in den Bereich des Bau- und Planbaren.
In Deutschland wurde die Magnet-Technologie des Transrapids erdacht, erforscht und starb dann einen langsamen Tod. In China erleben die Magnetzüge gerade eine stürmische Renaissance – ohne deutsche Beteiligung. Da ist es eine kleine industriepolitische Revanche, wenn die Aufzugstechnologie für die kommenden Wolkenkratzer im Reich der Mitte aus Deutschland kommen könnte.
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